Nachts in Trainyards rumstreunen, bedeutet: Be a ninja. Bewege dich leise. Bleib in der Dunkelheit. Kleide dich schwarz. Lass dich verdammt nochmal nicht sehen. Wir beide waren nun auf einer Mission. Zwei Assasinen, die sich an ihr nächstes Opfer heran schlichen. Es war bereits Dämmerung. Ich wartete nahe de Gleisen mit unseren Rucksäcken. Roy kam gerade von einer Erkundungstour zurück. Unser hop-out lag mitten in den Yards. Ein freistehender Palettenhaufen, der in der Mitte einer Freifläche war, die ungefähe 7-8 Fußballfelder groß war. Irgendwie mussten wir dahin gelangen. Es war der beste Ort um auf den Zug zu warten. Ich wusste nun auch, wieso man von einem „Catwalk“ in diesem Yard sprach.
Roy hatte alles die CrewChange-Informationen überprüft. Es sollte da ein Loch in der Mauer geben, durch das man auf das Bahnhofsgelände gelangen konnte. Das Loch gab es nicht. Wir mussten einen anderen Weg finden. Es gab wohl zwei Zäune über die klettern konnten. „Die sind da ziemlich tief“, meinte Roy.Über Zäune klettern hat sowieso mehr Stil als durch Löcher zu kriechen. „Mehr Stil“ hatte auch eine Gruppe Punks, die wir später beobachteten, wie sie mit ihren Hunden einfach stur über die Gleise rannten. Mitten durch die Flutlichter des Bahnhofs. Funktionierte anscheinend auch.
Während wir uns über den weiteren Plan unterhielten, sah ich ein Auto patroullieren. „Down!“, baffte ich Roy an. Wir tauchten soforts ab ins hohe Gras. Die Security war unterwegs. Stay low und lass dich nicht sehen. Das Auto hielt 70m neben uns an, drehte langsam ab und fuhr in die andere Richtung weiter. „Good call.“, meinte Roy anerkennend. Es war Zeit zum Hop-Out vorzudringen. Das wurde hier langsam zu heiß. Wir schlichen uns über ein paar tote Gleise zum ersten Zaun, der war von anderen Trainhoppern schon „bearbeitet“ und angenehm zu überwinden. Wieder Gleise Rennen, wieder Zaun, ein Zug ertönt. Da fährt gerade was los in unsere Richtung. Scheiß Timing, schnell jetzt! Wir sprangen eine Geröllabhang herunter und hatten den riesigen Yard vor uns. Zwischen uns und den Gleisen war nichts, was Deckung versprach. Ca. 700m lange, flache, unbebaute Wiese, bestrahlt von großen Flutlichtstrahlern. In der Mitte dieser Wiese stand ein ungenutzter Turm mit Palettenstapel. Das war der Hop-Out.
Zu meiner Überraschung ging das vertrocknete Gras der Wiese bis zu meinem Bauchnabel und bot exzellente Deckung. Wir arbeiteten uns gebückt zum Turm vor und erreichten ihn sicher. Ich hatte schon von anderen Trainhoppern von dem Spot gehört, aber nie gedacht, was für ein paradisischer Ort das sein sollte. Neben dem Turm war ein großer Stapel Paletten, der im Inneren schon auseinander gepflückt wurde, sodass sich ein kleines Haus mit Liegefläche für 4-6 Personen ergab, wenn man in den Stapel hinein ging.
Im Gras selbst war ebenfalls eine platt gedrückt Fläche. Ihr kennt das sicher, wie man als Kinder in die Kornfelder marschiert und sich dort sein eigenes Bett auf Kosten des Bauers Ernte gemacht hat. So ungefähr war das auch an diesem Hop-Out. Perfekte Deckung, kein (normaler) Mensch kam je zu diesem Palettenstapel und wir hatten optimale Sicht auf die Gleise und jeden ankommenden Zug. Durch das hohe Gras konnte man sich gut an die Wagons heranschleichen.
Wir warteten auf unseren Zug, legten ein wenig hin. Die Sterne leuchteten über uns. Es war noch kein Mond aufgegangen. Ich rauchte eine Zigarette und Roy schlief ein. Es wurde frisch, aber meine gefundene Lederjacke bot mir mütterliche Wärme. Es war eine wunderschöne Nacht an einem atemberaubenden Ort. Auch ich schlief irgendwann ein. „Stefan!“, riss mich Roy aus meinen Träumen. Ein Zug lief ein. Der kurze IM*, den ich schon die Nacht vorher gesehen hatte. Definitiv ein Hot-Shot, aber den wollte ich eigentlich nicht hoppen. Roy meinte aber: „Das geht schon.“ Schnell wurden die Sachen zusammengepackt und wir waren wieder im Ninja mode. „Keep yourself low!“, meinte ich noch zu Roy.
Wir checkten ein paar Wagons, fanden zwei die wir besteigen konnten. Leider nicht gemeinsam. Es war nicht viel Platz. Ich quetschte mich unter eine Trittbank. Nun war warten angesagt. Der Zug rollte los. Nach 50m blieb er wieder stehen. Weiter warten. Irgendwann hörte ich die Airbreak. Sollte bald wieder losgehen. Auf einmal kam Roy angerannt: „Stefan, i think we shouldn´t do this! I checked the number and those containers are getting grounded in 5 hours!“ Was? Keine Zeit zu reden, gib mir ne klare Ansage. Der Zug kann jede Sekunde losrollen! Roy hatte Tracey angerufen, die freundliche Computerstimme, die zu jedem Wagon und Container das zugehörige Ziel kennt. Auch ein nettes Gimmick für professionelle Trainhopper.
Als wir zurück zum Hop-Out liefen hing Roy immernoch in der Leitung und checkte einen anderen Wagon über Tracey. „This one is going to Southern California! Let´s go back!“ Also wieder zurück auf den Wagon. Ich wurde nervös. Wieder verstecken, wieder warten. Und es passierte erstmal nichts. Nach ca. 60 Minuten fuhren mehrere Autos entlang des Zuges. Die Bahnarbeiter entkoppelten die End-Unit. Höchst ungewöhnlich. Was war hier los? Ich beobachtete das geschehen und blieb an meinem Platz. Normalerweise sollte der Crew-Change von solchen IM´s nie länger als 30 Minuten dauern. Wenn überhaupt. Und nun wurde noch die End-Unit abgekoppelt. Irgendwas stimme nicht. Mir blieb nichts anderes übrig als unten zu bleiben, nicht gesehen zu werden. Falls etwas ist, würde mir Roy schon Bescheid sagen. Wir sollten insgesamt mehr als 3 Stunden auf diesem Zug warten, bis er endlich los rollte.
Was ich erst am nächsten Tag erfahren sollte. Roy wurde nervös. Sehr nervös. Er hatte seinen Wagon verlassen und ist zum Kopf des Zuges gelaufen, um die Front-Units zu checken. Als er fast da war, hörte er die Air-Break. Ein sicheres Zeichen, dass der Zug gleich losfährt, was aber etwas suboptimal ist, wenn dein Rucksack am anderen Ende des Zuges liegt. Er sprintete zurück so schnell es ging. Züge sind lang, manchmal weit mehr als 1 km. Irgendwann auf seinem Run tauchte der Bull auch noch hinter ihm auf und fuhr mit seinem Auto den Zug ab. Roy musste sich verstecken. Mega Aktion, nur um die Units zu checken, weil er Tracey nicht vertraut hat. Er hat es aber noch rechtzeitig geschafft. Und gegen 4:30 in der früh fuhren wir endlich los.
Unsere Route führte direkt durch die Salzwüste bei Salt Lake City. An der Stadtgrenze roch es noch derbst nach fauligen Eiern, aber bald schossen wir hinein in die absolute Dunkelheit und mitten durch den Salzsee. Die Strecke war einmalig. Nur mit dem Güterzug zu fahren. Keine Straße, kein Personenzug, nur ein Gleis, dass mitten über einen Damm führte, der das Meer zweiteilt. Links und Rechts von uns nur Wasser oder ausgetrocknete Salzfläche. Über uns ein enormer Sternenhimmel der durch die Hochebene besonders hell leuchtete und der Mond ging auf. Es war zwei Tage vor Neumond. Der Mond hatte die Form einer Sichel. Man konnte jedoch den Umriss des gesamten Trabanten erkennen. Der Mond erhob sich hinter den Rockies und versüßte mir meine sowieso schon atemberaubende Rundumsicht auf meinem „double stack“. Insgesamt war die Szenerie schon wieder absolut traumhaft. Zugromatnik at its best.
Ich hatte den ganzen Abend nichts gegessen, weil ich auf diesen Moment gewartet hab. Nun konnte ich endlich meine Provianttüte öffnen. Es gab eine Dose Thunfisch, trockenes Brot, einen Apfel und Chocolate-Cheescake Cookies. Dazu Zigaretten und Wasser. Warmer Wind wehte mir um den Kopf. Wir überholten einen wartenden Zug. Ha! Wir sind der Priority Train ihr Muschis! Ich streifte meine Lederjacke über, legte mich in meinen Schlafsack und schlief ein.
Der Zug schüttelt einen ordentlich durch und es wurde recht kalt. Meine Jacke tat guten Dienst, was man von meinem Schlafsack nicht gerade behaupten konnte. Sonnenaufgang. Wir rollten schon die ganze Nacht. Die ersten warmen Strahlen erreichten mich und ich versuchte meine vereisten Füße zu reanimieren. Irgendwann war der zweite Crew Change. Gegen Vormittag. Und dann rollten wir durch die Wüste. Der „double stack“ hatte zwar gute Sicht, aber dafür keinen Sonnenschutz. Und so saß ich in der prallen Sonne und konnte nichts tun. Den ganzen Tag. Meine Gallone Wasser wurde warm, das war etwas ecklig. Aber auch meine Dose Ravioli wurde warm. Was wiederum Vorteile hatte.
Eine Dose Fisch, zwei Birnen und ein paar Cookies später, rollten wir nach sagenhaften 16 Stunden in unseren Zielort herein. Normalerweise sollte der Ritt bis zu 36 Stunden dauern, aber wir hatten wirklich einen sehr schnellen IM erwischt. Letzte Prüfung, vom zug runter kommen. Ich wurde mehrfach gewarnt vor unserem Zielort. Viele zwielichtige Gestalten, die dort rumlaufen und die Bulls sollen besonders scharf sein.
Dazu kam dann noch Officer Watson, der lokale Sheriff, immer den Block Griffbereit um dir für eine sinnlose Lapaille ein Ticket auszustellen. Für mich war die ganze Trainhopping Geschichte sowieso schon ein Spiel mit dem Feuer. Ich brauchte ein neues US Visa und wenn ich irgendwo auch nur ein Ordnungsgeld aufgedrückt bekomme, dann war es das mit meiner Alaska Expedition. Aber für die Trainhopping Erfahrung ist es mir das absolut wert. No guts, no glory.
Wir rollten auf unseren Zielort. 50Km vorher, mitten im Nirgendwo ein Bahnübergang. Ich sitze nichts ahnend in meinem Wagon und schaue in die Landschaft. Auf einmal steht da ein Opa mit einer dicken Kamera. Er erblickt mich, das konnte ich an seinem Zucken erkennen. Und er schießt ein schönes Foto von mir. Ihr könnt euch vorstellen, wie mir die Muffe für die letzten paar Km ging. Ob der jetzt die Polizei ruft? Ob die uns direkt am Bahnhof abfangen? Anspannung. Der Zug rollte in die Yards. Die Bremsen brachten dieses riesige Stahlmonster zum stehen.
Es dauerte keine 15 Sekunden. Ich war bereit, hatte alles gepackt. Roy sprang von seinem Wagon und auch ich tat dies. „Nichts wie raus hier.“ Zwei schwarz gekleidete Trainkids. Völligst verdreckt sprinteten wir im Dämmerlicht über die Gleise. Straße erreicht. Sicherheit. Keiner hat uns gesehen. Mission abgeschlossen. Erstmal was kühles trinken gehen. Roy war die letzten vier Stunden ohne Wasser gewesen. Und ohne Schatten. Wir waren beide ziemlich fertig, aber sehr glücklich. 16 Stunden auf einem Güterzug. Das ist wie 16 Stunden in der Babywiege auf einer Waschmaschine abgestellt werden, während ein Erdbeben 7ten Grades unter deinem Haus wütet. Also mega, geile Erfahrung!