Peru hat mich erstmal positiv überrascht. Rund um Lima gibt es eine wunderbar dreispurige Autobahn. Gut ausgebaut, toller Zustand. Das einzige Problem: Den Peruanern hat nie jemand erklärt, wie man so eine Autobahn nutzt. Resultat: Alle fahren links. Das wiederum hat zur Folge, dass die Leute von allen Seiten überholen und ein dezentes Chaos entsteht. Für langsame Autos hat das Linksfahren gewisse Vorteile, die mir erst später bewusst wurden. Man wird nur noch von einer Seite überholt. Und die Kriechfahrzeuge bremsen dort nicht aus. Kann jetzt verstehen, wieso alle auf dieser Spur sein wollen. Menschliches Verhalten macht ja grundsätzlich immer Sinn.
Planlose Gauchos reiten ins Chaos
Mit meinem beiden Argentiniern, die mir freundlicherweise einen Lift ans andere Ende von Lima offerierten fuhren wir also los. In einer alten Rostlaube um Lima zu durchqueren…zur Rush Hour. Wir fuhren direkt in die Hölle. Was auf der Autobahn dezent chaotisch wirkte, eskalierte in der Stadt exponentiell und mündete in der absoluten Anarchie. Habe ja schon viel Stadtverkehr erlebt, aber das war wirklich ein anderes Level gewesen. Jede Ampelkreuzung überquerten wir grundsätzlich hupend und rücksichtslos, immer in der Hoffnung nicht in den nächsten Zusammenstoß verwickelt zu sein. LKW´s versuchten uns auf der sowieso schon viel zu engen Straße abzudrängen. „Puta Puta“, schrien meine Mitfahrer in regelmäßigen Abständen aus dem Fenster.
Die großen Kreuzungen wurden von Verkehrspolizisten auf Podesten dirigiert. Die (meist weiblichen) Verkehrspolizistinnen standen mit Mundschutz und LED-Leuchtstäben auf ihren unwirklich scheinenden Emporen und winkten abwechselnd den teilweise fünfspurigen Verkehr durch. Untermalt wurde dieser Tanz von den aggressiven Lauten einer Trillerpfeife, mit der die Verkehrsmassen zusätzlich gebändigt wurden. Die Gesten waren klar und bestimmend. Dieser Anblick hat mich wohl am meisten beeindruckt in dieser sowieso schon absurden Stadt. Ampeln schienen hier nicht mehr als Dekoration. Totales Chaos, aber irgendwie funktionierte das. Und es faszinierte mich. Während wir an den Ampeln standen, konnten wir von fliegenden Straßenhändlern alles kaufen, was man in der Rush Hour benötigte. Essen, Trinken, Süßigkeiten…nur leider keine Waffen. Was mir sonst noch auffiel: Lima roch recht stark. Mal nach Scheiße, mal nach Essen, aber es roch, immer. So stell ich mir ein Ankh Morpork der Gegenwart vor.
Ich fragte mich irgendwann, was wir hier eigentlich machen? Luiz, mein vorheriger Lift, meinte doch die Autobahn zog sich durch die ganze Stadt und…..ahja…okay….natürlich hatten wir uns verfahren und hingen mitten drin im Molloch. Jede Ampel wurde genutzt um die Autos neben uns nach dem Weg zu fragen, was eine Art running Gag zwischen uns wurde. „Preguntar Taxi?“ wurde vor jeder Ampel rethorisch in die Runde gefragt. Klar, frag mal! Was auch ziemlich lustig war, dass die Beiden nach dem Weg fragten, eine Antwort bekamen und sich anschließend anschauten: „Hast du ihn verstanden?“ „Ne, du?“. Arme Argentinos. Keiner versteht ihren Dialekt und sie verstehen auch niemanden. So wird das schwierig hier.
Unser Grundproblem war allerdings, dass die Beiden nach der falschen Richtung fragten und wir letztendlich in einem Vorort von Lima, der wahrscheinlich so groß wie Berlin ist, landeten und das überhaupt nicht auf unserer Strecke lag. Also wieder zurück, nochmal komplett durch Lima durch. Ich übernahm die Orientierung und bemerkte, dass in meiner Straßenkarte ja auch eine Lima Karte enthalten ist. 2,5 Stunden später waren wir wieder auf der richtigen Straße. Der Panamericana nach Norden. Lima Rush Hour überlebt. Schön wars. Auf seine eigene Art und Weise.
23:52 Uhr stand ich an der nächsten Peaje und fing einen LKW ab. 30 km zur nächsten Peaje? Claro. Bewegung ist Bewegung. Ich schlief irgendwann unfreiwillig ein, wachte eine Stunde später auf, als wir am Ziel waren. Ich vermute es waren mehr als 30 km, aber das war mir nur recht. Aus dem LKW gefallen, neu positioniert. Es war nach 1 Uhr Nachts. Planmäßig musste ich nun meinen Nachtlift Richtung Norden kriegen. Aber der Rückblick war etwas ernüchternd. Ich war zwar hinter Lima, aber bis auf 30 Minuten Wartezeit hatte ich die letzten 24 Stunden DURCHGEHEND in Autos gesessen und mich fortbewegt. Tag und Nacht. Trotzdem gerade mal 800-1000km zurückgelegt. Trampen lief optimal, nach Plan. Aber ging anscheinend nicht schneller. Naja, gerade bei längeren Touren ist am Ende der Gesamtlauf entscheidend und nicht einzelne Abschnitte. Ihr wisst ja, Krieg gewonnen und Schlacht verloren und so…. Und dann kam Lucho.
Nachtgestalten und anderes Getier
Lucho, der eigentlich Luiz hieß, fuhr Nachts an der Toll-Station an mir vorbei, erblickte mich und machte erstmal eine etwas unverständliche Geste. Er war anscheinend überrascht und verwundert, was ich denn hier machte. Aber er hielt an, wirkte erstaunt und interessiert, kurzes Gespräch wo er hinfährt, er sagt 500km nördlich, hat aber keinen Platz. Ich nochmal ungläubig „500km?“, eine riesige Distanz für die langsamen Straßen und die Gegend. Er willigte schließlich ein. Mein Nachtlift war da, Yay! Auto kurz aufgeräumt und Platz für mich gemacht. Ich sollte die nächsten 10 Stunden mit ihm im Auto verbringen und das sind genau die Nachtfahrten, die ich Suche und total geniesse.
Lucho war verrückt. Und erinnerte mich an Vitali, einen Rumänen der mich mal von Kopenhagen nach Hamburg mitgenommen hatte, auch Nachts (ja vielleicht schreib ich noch ein Feature über Vitali). Sein Auto war zugerümpelt mit Umzugskram, auf dem Beifahrersitz alles voll mit Hemden. Er selbst schaut mich mit einer Mischung aus Begeisterung und Wahnsinn an, hatte ein weißes Handtuch um den Hals hängen, wie ein Boxer in seiner Ringpause. Er arbeitete für ein chinesisches Unternehmen, war Ingeneur und zuständig für Bohrungen. Ich hab sein Spanisch nur mäßig verstanden, aber neben dem Lucho war ein überaus scharfsinniger und intelligenter Mensch. Hielt mir zum Beispiel einen langen Vorträge über die verschiedenen Sprachfamilien im Spanischen und wie diese sich kulturell entwickelt hatten und zeigte mir unglaublich viel verschiedene Musik. Jede Kleinigkeit weckte sein Interesse. Das war auch etwas beängstigend, weil er so freakig war und geistig hellwach zugleich. Seine Fragen waren präzise und er lies nicht nach, ehe man nicht ebenso präzise antwortete.
Wir fuhren Nachts durch die trockene Küstenregion und am Straßenrand waren überall kleine Lehmhäuser mit Laternen im Eingangsbereich. Illegale Tankstellen, wie Lucho mir erklärte. Aber das sei ein Geheimnis. Die Laterne war ein Zeichen, dass es hier Sprit gab. Es wurde eine lange Nacht. Irgendwann schlief ich ein. Das ist dieser Schlaf, der dich von jetzt auf gleich übermannt und ins Reich der Bewusstlosigkeit führt. Der Kopf klappt nach vorne und man fängt an sich selber vollzusabbern. Das ist übrigens der einzige Schlaf, den ich auf so einer großen Tour kriege. Irgendwann gegen Morgengrauen wieder halbwegs bei Bewusstsein und Lucho fragte, ob ich hungrig sei? Wir steuern ein kleines Restaurant an der Straße an und es gibt erstmal leckeren Fisch mit Reis. Lucho lud mich ein und erzählte mir gleichzeitig, dass er diese Nacht schon zwei mal am Steuer eingeschlafen war. Ich beschloss ab jetzt wach zu bleiben.
Wo man vom Wolf spricht, da der Wolf ist
Ich beobachtete mit großem Interesse, wie sich Luchos Mischung aus Wahnsinn und Scharfsinn zeigte, wenn er mit seinen Mitmenschen umging. In dem kleinen Restaurant wollte er etwas zu trinken für uns ordern. Sie hatten aber nicht, was er wollte und brauchten außerdem etwas länger mit dem Service. Lucho trietzte unablässig. Ruft die Bedienung herbei, meint mit einem widerwärtigem Grinsen:„Ihr wollt doch, dass ich wiederkomme, oder?“ Er hatte eine scheußliche Art an sich, aber irgendwie auch total faszinierend. Nächste Station: Tankstelle. Die Tankstellenfrau hat kein Wechselgeld und benötigte Zeit dieses aufzutreiben. Wieder gleiches Spiel. Er schreit sie höflich an, was das denn für ein scheiß Service wäre und wieso kein Wasser auf den Toiletten wäre. Dann erzählt er mir, dass die gute Frau 200$ im Monat verdient. Er hat sie anscheinend nach ihrem Verdienst gefragt. Danach war er etwas milder. Schließlich gab es noch einen Wasserhahn am Gebäude, der funktionierte. Wir wuschen uns unsere Hände und Gesichter. Morgentoilette. Vom Dach schrie irgendein Bauarbeiter etwas, hab es nicht verstanden. Aber Lucho provozierte alles und jeden um ihn herum und rief nur irgendwas mit „für deine Mutter“ zurück. Ein krankes Lachen folgte und wir fuhren weiter.
Einmal mehr eine Polizeikontrolle passieren. Nachdem Lucho das Letzte mal einen Beamten geschmiert hatte, meinte er hinterher nur süffisant: „Oh, die Reise wird ja immer teurer für mich.“ und er lachte hysterisch. Diesmal gab es Probleme mit den Papieren vom Auto. Und wenn es Probleme gibt, nachdem das Geld übergeben worden ist, dann ist das meist kein gutes Zeichen. Lange Diskussion mit dem Polizisten. Lucho wollte sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, musste letztendlich aber doch aussteigen und mit zum Polizeijeep kommen. Was dann passiert ist, weiß ich nicht. Aber es wurde wahrscheinlich teuer für ihn. Eine Unterhaltsame Nachtfahrt fand ihr Ende am nächsten Tag gegen 12:39 Uhr. Angekommen in Chicuaya, Nord-Peru. Wiedermal etwas langsamer als erwartet, aber einen großen Sprung gemacht.
Ein Kleinlaster hielt acht Minuten später an. Nahm mich zwei Stunden weiter nördlich mit, auf einer Straße die 200km ohne Kurve, Dörfer und nur mit einer Kreuzung auf halben Wege durch die Wüste führte. Einfach nur stur geradeaus durch das nichts. An der besagten Kreuzung ließ er mich raus. Ein kleines Restaurant war da, wo ich mich mit Wasser, Zigaretten und Snacks eindecken konnte. Mit an der Kreuzung saßen Frauen die Plastikkisten mit Essen dabei hatten und von Reisebussen aufgesammelt wurden. Die verkauften ihren Kram anscheinend an die Busreisenden. Um mich herum war nur Sand und Müll. Einmal stieg eine Frau aus einem Bus aus, setzte sich auf ihre Plastikbox und leerte erstmal ihre Taschen von allem Müll, der sich darin angesammelt hatte. Ein Haufen Plastiktüten bewegten sich tanzend über die Straße, wurden vom Wind in die Wüste getragen und blieben letztendlich und einem für die nächsten 500 Jahre an einem Wüstenstrauch hängen. Ein etwas frustrierender Anblick.
Ich hatte erst einen Toyota, trampte dann mit einem Taxi aus der nahe gelegenen Stadt Puna nach Sullana, überredete ein Mototaxi mich ans Stadtende zu fahren und tauschte Gefallen gegen eine Zigarette. Inzwischen war ich von der Wüste in den tiefsten Dschungel gelangt. Die Luft war schwül, Autos hielten schwer an, ich schwitzte wie seit Brasilien nicht mehr und lief wieder viel. Gegen sechs Uhr Abends erwischte ich dann meinen geplanten Abendlift, bis nach Tumbe, dem letzten Ort in Peru, ein paar Kilometer entfernt von der ecuadorianischen Grenze. Wieder lief alles nach Plan. Wir sollten 5,5 Stunden unterwegs sein. Kleinlaster. Zwischendurch gab es nochmal Abendessen. Wieder Fisch, dazu kühles Wasser und mein Fahrer war so freundlich mich einzuladen. Hatte sowieso nur noch knapp 8€ einstecken und reiste eigentlich seit mehr als 24 Stunden ohne Geld auszugeben. Auf Richtung Grenze, Ecuador ich komme.
Ich möchte in der Fußnote um Entschuldigung bitten, für die literarische Verballhorung des Anarchiebegriffes. Anarchie hat natürlich nicht direkt etwas mit Chaos zu tun, sondern beschreibt lediglich die Abwesenheit von Herrschaft. Die Erschaffung solcher Zusammenhänge ist irreführend und wird dem Gesamtkonzept nicht gerecht. Ich mag Anarchie und ein besseres Wort war mir nicht geläufig. Und der passendere Begriff der Anomie hätte nicht denselben Effekt gehabt, da nicht so populär. So Verhuren wir uns eben alle ein bißchen für die Aufmerksamkeit der Masse.
🙂 Super Beitrag. Top Schreibstil. Fußnote am Ende auch sehr nice. 😉 Weiter so Gringo!